Su-Ran Sichling: Blurred Edges (Kantenunschärfe), 2022

Im 18. Jahrhundert begannen die Herrnhuter, Siedlungen und Missionsstationen auf fünf Kontinenten zu gründen, um ihren Glauben zu verkünden. Sie schufen ein globales Netzwerk, dessen eigens errichtete Siedlungen sich durch wiederkehrende Architekturmerkmale auszeichnen. Der geschlossene Stadtgrundriss einer idealen Siedlung diente als Vorlage für alle weiteren Ortsanlagen und sollte bereits visuell die Alltagsstruktur der Glaubensgemeinde abbilden. Es entstanden zahlreiche Missionen, oftmals unter hierarchischen und kolonialen Bedingungen. Bis heute kamen dadurch viele verschiedene Stimmen aus den einzelnen Siedlungen und Missionsstandorten zur Brüdergemeine hinzu. Die Inhalte der Missionsarbeit sind somit kein Ergebnis einer homogenen unidirektionalen Praxis eines „neutralen Senders“, sondern eines heterogenen und nicht-linearen Prozesses. Denn auch die Missionar*innen wurden – wenn auch nicht in gleichem Ausmaß – durch den Austausch mit ihren neuen Glaubensbrüdern und -schwestern geprägt.

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© Robert Vanis, Dresden, Germany sowie den Urheber*innen der abgebildeten Werke bzw. den abgebildeten Personen
Su-Ran Sichling: Blurred Edges (2022)

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Der Plan vom Prototyp einer Herrnhuter Siedlung wird im Innenhof des Museums am Beispiel des Stadtgrundrisses von Herrnhaag in der Installation von Su-Ran Sichling in Form eines Metallgitters aufgegriffen. Das starre, ideelle Konstrukt wird von den Rändern her aufgeweicht. Hinzukommende Personen verändern auch immer wieder das Gesamtgefüge: Durch diese stetige Durchdringung des Rasters mit „fremden“ Einflüssen kann es auch fortan keine „reinen“ Übertragungen in andere Kontexte geben. Ein mit Indigo gefärbter Stoff durchdringt das harte Raster des Stadtplans und lässt die Außenkanten verschwimmen.

Auf dem Boden des Innenhofs befindet sich eine mit Lehm gefüllte Wanne. Um sie herum sind Geräte und Wasserbehälter platziert. Einige der Geräte zitieren Artefakte aus der Dauerausstellung des Völkerkundemuseums, ohne Berücksichtigung ihrer Funktion oder musealen Kategorisierungen. Die Besucher*innen sind eingeladen, diese Geräte selbst in der Wanne auszuprobieren und den Lehm zu bearbeiten. Sie schreiben sich damit in einen sich immer wieder verändernden Prozess ein, der menschliches Handeln und Interagieren ins Zentrum rückt und festgeschriebene museale Ordnungen in Fluss bringt. So kann das Bild eines gleichberechtigten, hierarchielosen und gemeinsamen Gestaltens entstehen, als flüchtige Zukunftsvision.

Vita

Su-Ran Sichling (*1978) machte eine Ausbildung zur Scheibentöpferin in Mittelfranken und studierte ab 2004 Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, an der École Supérieure d’art et design in Angers und an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Während sie Meisterschülerin bei Martin Honert war, studierte sie Journalismus an der Universität der Künste in Berlin und beschäftigte sich in ihrer Masterarbeit mit dem kulturellen Selbstverständnis migrantischer Künstler_innen in Deutschland.  

Sie unterrichtete am Fachbereich Bildende Kunst des Instituts für Architektur der TU Berlin und ist künstlerische Mitarbeiterin an der HfBK Dresden. 2019 leitete sie einen Workshop für Architektur- und Kunststudierende in Mosambik in Kooperation mit der Escola Nacional de Artes Visuais, der Universidade Eduardo Mondlane, dem Dänischen Nationalmuseum und dem Goethe-Zentrum Maputo.

www.su-ransichling.com

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